In immer mehr deutschen Innenstädten erwachen öffentliche Hotspots zum Leben, anders als in Estlands Hauptstadt Tallinn. Hier ist freier Zugang zum Internet selbstverständlich und seit 1997 landesweit sogar Grundrecht. Wer also mal eben schnell die neusten Urlaubsbilder posten will oder Restaurants in der Nähe sucht, muss nach seinem Urlaub in Estland keine teure Handyrechnung fürchten. Aber gerade in Tallinn sollte das Handy lieber zum fotografieren anstatt zum surfen genutzt werden, da sich die Stadt offline besser erleben lässt.
Die Altstadt
Die Ursprünge der Stadt, die früher Reval hieß, liegen bei einer hölzernen Burg, die auf dem heutigen Domberg erbaut wurde. Um sie herum entwickelte sich ein Handelszentrum mit Hafen, der wichtiger Anlaufpunkt für Waren aus Russland und Skandinavien wurde. Zur Stadtgründung kam es aber erst 1230, nachdem der Schwertbrüderorden die Dänen, die das Gebiet elf Jahre zuvor erobert hatten, vertrieb und Kaufleute in die Stadt holte. Im Laufe seiner Geschichte stand Tallinn, genau wie der Rest des Landes, immer wieder unter fremder Herrschaft. 1918 wurde Estlands erstmals unabhängig, fiel aber nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion und wurde als Teilrepublik eingegliedert. Fast fünfzig Jahre lang stand das Land unter sozialistischer Führung, ehe die Esten sich 1991 erneut unabhängig erklärten und Tallinn wieder Hauptstadt einer eigenständigen Republik wurde.
Die Spuren der Vergangenheit, sowohl des Mittelalters als auch er sowjetischen Ära, lassen sich heute noch in der Stadt finden. So sind fast achtzig Prozent der Stadtmauer, die im 15. Jahrhundert eine Länge von über zwei Kilometern hatte, nach wie vor erhalten und prägen die historische Innenstadt. Auch 25 der 40 Türme, die entlang der Mauer gebaut wurden, stehen heute noch, darunter auch die „dicke Margarethe“ mit ihren 25 Metern Durchmesser. Inzwischen trennt die Mauer die moderne Metropole von der Altstadt, die auf Luftbildern durch ihre roten Dächer hervorsticht und in zwei Gebiete aufgeteilt ist. Auf der oberen, dem Domberg, steht der namensgebenden Tallinner Dom, der kurz nach der Eroberung 1219 von den Dänen gebaut wurde. Ursprünglich war er aus Holz, doch es dauerte nur zehn Jahre, bis der Bau durch eine stabilere Konstruktion aus Stein ersetzt wurde. Nah des Haupteinganges befindet sich eine Steinplatte, die auf das dort befindliche Grab von Otto Johann Thuve hinweist. Dieser war im 17. Jahrhundert Gutsbesitzer und galt als Casanova, was er kurz vor seinem Tod zu bereuen schien. Er bat vor dem Domeingang begraben zu werden, damit die gottesfürchtigen Menschen, die dort zum Gebet niederknien, seine Seele retten können. Die spöttische Version der Geschichte besagt, dass Otto dort seine letzte Ruhe finden wollte, um jungen Frauen auch nach seinem Tod noch unter den Rock schauen zu können.
Zwei Querstraßen südlich des Doms befindet sich das Stenbock’sche Haus in dem heute die estnische Regierung sitzt. Ursprünglich sollte es als Gerichtsgebäude dienen, konnte aber aufgrund fehlender Gelder nicht fertiggestellt werden. 1784 nahm sich der namensgebenden Gutsherr Jakob Pontus Stenbock dem Haus an und ließ es als sein Stadtanwesen fertigstellen. Während der sowjetischen Besatzung wurde das Gebäude dann, wie ursprünglich geplant, von Gerichten genutzt. Danach befand es sich in einem fürchterlichen Zustand, war zeitweise sogar einsturzgefährdet und musste komplett saniert werden, bevor 2000 die estnische Regierung dort einzog.
Direkt gegenüber befindet sich die Alexander-Newski-Kathedrale, die optisch etwas an den Dom in Helsinki erinnert. Die russisch-orthodoxe Kirche wurde 1895 erbaut und sollte 1924, während der ersten Unabhängigkeit des atheistisch geprägten Landes, abgerissen werden. Zum Glück kam es nie dazu, sonst würde Tallinn heute eins seiner schönsten Wahrzeichen fehlen.
Im unteren Teil der Altstadt befindet sich der Rathausplatz, das Zentrum der Stadt, an dem sich heute Restaurants und Bars aneinander reihen, die Touristen und Einheimische zum Verweilen einladen. Bereits im 14. Jahrhundert war der Platz gepflastert und wurde bis 1896 als Markt genutzt, bevor der Handel an anderen Orten in der Stadt abgewickelt wurde. Heute finden hier nur noch Weihnachts – und Jahrmärkte statt.
Ein Denkmal für die jüngere Geschichte des Landes befindet sich etwas nördlich der Altstadt. Im September 1994 sank die estnische Fähre „Estonia“ auf ihrem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der finnischen Insel Utö, wobei über 800 Menschen ihr Leben verloren. Um diesem Untergang, der als schwerstes Schiffsunglück Europas seit dem Zweiten Weltkrieg gilt, zu gedenken, wurde in Tallinn die Skulptur „Katkenud liin“ (dt. Unterbrochene Linie) errichtet, die sich von einem Hügel ins Tal erschreckt, ihr Gegenstück jedoch nie erreichen wird.
Der gegenwärtige Zerfall
Es ist allgemein bekannt, dass Filme nicht immer an dem Ort gedreht werden wo sie eigentlich spielen. So auch Christopher Nolans Film „Tenet“ der im Sommer 2020 in die Kinos kam. Gleich zu Anfang sehen die Zuschauer einen Terroranschlag auf die Oper in Kiew, die allerdings keinerlei Ähnlichkeit mit dem Taras-Schewtschenko-Opernhaus in der ukrainischen Hauptstadt hat. Bei dem gezeigten Gebäude handelt es sich nämlich um die Linnahall in Tallinn, eine Mehrzweckhalle die bis 2001 die größte des Landes war. Gebaut wurde sie für die Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau, da die sowjetische Hauptstadt keinen Zugang zum Meer hat und die Segelwettbewerbe nach Tallinn gelegt wurden. Die Halle steht direkt an der Ostsee, was für die Architekten eine Herausforderung wurde, da sie den Blick auf das Meer nicht beeinträchtigen durfte. So entstand der flache Sowjetbau der inzwischen dem Verfall preisgeben ist. Seitdem der örtliche Eishockeyclub, der in der Halle seine Spiele austrug, aufgelöst wurde, wird die Linnahall nicht mehr genutzt. Das leerstehende Gebäude aus Sowjetzeiten ist heute trotzdem noch eine beliebte Touristenattraktion, da man das flache Dach betreten kann und von dort eine beeindruckende Sicht auf das Meer hat. Urban Explorer, denen es beim Gedanken in einer leerstehenden Stadthalle herumzuschleichen, schon in den Fingern juckt werden bei der Linnahall enttäuscht werden, da sämtliche Eingänge abgesperrt sind und kein Weg ins Innere des Gebäudes führt.
Spaß für die ganze Familie
Wer sich vor seiner Reise nicht entscheiden kann, ob es ein entspannter Strandurlaub oder ein Städtetrip werden soll, findet in Tallinn die perfekte Lösung. Durch ihre Lage am Finnischen Meerbusen hat sie mehrere Strände, die im Sommer zum Baden einladen. Falls das Wetter nicht mitspielen sollte aber der Ruf des Wassers zu laut ist, gibt es im Norden der Stadt den Atlantis H2O Aquapark, der Spaß für Alt und Jung bietet. Hier gibt es acht spektakuläre Wasserrutschen und ein Saunacenter für entspannte Stunden nach der Wasseraktion.
Nah des stadteigenen Ülemiste-Sees befindet sich das Sky Wheel of Tallinn, ein 120 Meter hohes Riesenrad das einen beeindruckenden Blick über die Stadt liefert. Die 27 Gondeln transportieren Passagiere das ganze Jahr über und sind sowohl für Rollstuhlfahrer als auch Familien mit Kinderwagen geeignet.
Im Osten der Stadt liegt sich der größte, beste und einzige Zoo des Landes, der 1939 eröffnet wurde. Grund dafür waren estnische Sportschützen, die zwei Jahre zuvor bei der Weltmeisterschaft im nahgelegenen Helsinki einen Luchs gewannen, der dann natürlich ein artgerechtes Zuhause brauchte. Heute findet sich dieser Luchs auf dem Wappen des Zoos und in seinen Nachkommen wieder, die alle noch in der estnischen Hauptstadt leben.
Auch Geschichtsfreunde kommen in Tallinn auf ihre Kosten, da die Stadt viele spannende Museen bietet. Im Bezirk Rocca al Mare können Besucher unter freien Himmel in das Estland vergangener Tage eintauchen. Hier stehen 79 Nachbauten von Guts – und Bauernhöfen, Fischerunterkünften und Windmühlen wie sie es sie früher in Estland gab, die alle besichtigt werden können. Das KGB Museum bietet einen spannenden Einblick in die Arbeit des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes, der in zahlreichen Filmen als Gegenspieler der Amerikaner fungiert.
Estland allgemein
Die estnische Sprache gilt als eine der am schwersten zu lernenden der Welt, da sie 32 Buchstaben und 14 grammatikalische Fälle besitzt. Sie gehört zur Familie der finno-ugrischen Sprachen und hat, entgegen des allgemeinen Irrglaubens, nichts mit dem Russischen zutun. Die Alphabetisierungsrate liegt in Estland bei 99,8% und gehört damit zu einer der höchsten der Welt. Zudem sagt man den Esten nach, sie besäßen, abgesehen vom Vereinigten Königreich und Irland, die besten Englischkenntnisse Europas. 2011 führte das Land als erstes der drei baltischen Staaten den Euro als Währung ein, was für einen Großteil der europäischen Touristen den Gang zum Geldwechselschalter erspart.